78 Prozent wollen standardisierte Notaufnahme-Einschätzung – doch über 40 Prozent gehen trotzdem ohne Vorab-Check ins Krankenhaus

78 Prozent wollen standardisierte Notaufnahme-Einschätzung – doch über 40 Prozent gehen trotzdem ohne Vorab-Check ins Krankenhaus Nov, 21 2025

Fast vier von zehn Deutschen gehen ohne jede medizinische Vorab-Einschätzung direkt in die Notaufnahme – obwohl 78 Prozent der Bevölkerung genau dieses Verfahren befürworten. Das ist das erschreckende Paradox, das eine bevölkerungsrepräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag des AOK-Bundesverbandes im Oktober 2023 ergab. Die Daten zeigen: Während die Mehrheit der Bürger eine klare, strukturierte Einteilung nach Dringlichkeitsstufen will, handeln viele selbst dann, wenn sie am dringendsten Hilfe brauchen, völlig unkoordiniert – und belasten damit die Notaufnahmen weiter. Die Folgen? Überlastetes Personal, lange Wartezeiten und Patienten, die falsch behandelt werden.

Warum gehen Deutsche trotz Zustimmung ohne Vorab-Check in die Notaufnahme?

Die Zahlen sind deutlich: Mindestens 41 Prozent der Befragten, die in den letzten fünf Jahren eine Notaufnahme aufgesucht haben, taten dies ohne vorherige Abklärung durch einen ärztlichen Bereitschaftsdienst, eine Hausarztpraxis oder eine medizinische Hotline. Besonders auffällig: In Niedersachsen gaben mehr als die Hälfte der Befragten an, spontan in die Klinik zu gehen – oft weil sie keinen Facharzttermin bekamen. In Schleswig-Holstein nannten 37 Prozent akute Gesundheitsverschlechterung als Grund, 34 Prozent sagten, sie hätten sich zu schlecht gefühlt, um abzuwarten. Und in Niedersachsen waren es sogar 14 Prozent, die plötzlich Angst vor Herzinfarkt oder Schlaganfall hatten – und sofort losliefen.

Die AOK Nordwest mit Sitz in Münster fand zudem heraus: Nur 12 Prozent der Befragten in Schleswig-Holstein und 14 Prozent in Niedersachsen hatten vorher den ärztlichen Bereitschaftsdienst unter 116 117 angerufen. Noch alarmierender: 30 Prozent der Niedersachsen wurden direkt von ihrer Hausarztpraxis in die Notaufnahme geschickt – ein Zeichen dafür, dass die ambulante Versorgung an ihre Grenzen stößt.

Carola Reimann: "Jetzt muss gehandelt werden"

Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, kommentierte die Ergebnisse mit deutlichen Worten: "Es gibt in der Bevölkerung eine große Offenheit für eine bessere Steuerung von Notfällen nach Dringlichkeit durch den Einsatz von strukturierten Verfahren zur Ersteinschätzung. Das ist ein gutes Vorzeichen für die angekündigte Notfallreform." Doch sie fügte hinzu: "Nachdem die Reform in der letzten Legislatur liegen geblieben ist, wird es nun höchste Zeit, dass die schwarz-rote Koalition den Worten Taten folgen lässt."

Und tatsächlich: Gesundheitsministerin Nina Warken hatte Anfang November 2023 angekündigt, den Entwurf der Notfallreform vorzulegen – laut Medienberichten lag er bereits in der Ressortabstimmung. Die Forderung ist klar: Ein bundesweit einheitliches, digitales Ersteinschätzungsverfahren, das Patienten an die richtige Stelle leitet – ob in die Notaufnahme, zu einem Hausarzt oder in eine ambulante Notfallpraxis.

Die andere Seite der Medaille: Fachpersonal fehlt

Die andere Seite der Medaille: Fachpersonal fehlt

Doch die Probleme liegen nicht nur bei den Patienten. Eine parallele Studie der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und der Deutschen Gesellschaft für Notfallmedizin (DGINA) zeigt: In rund der Hälfte aller deutschen Notaufnahmen ist die durchgehende Präsenz von Fachärztinnen und Fachärzten nicht gewährleistet. In Krankenhäusern der Basisversorgung – oft in ländlichen Regionen – lag die permanente ärztliche Anwesenheit laut der Befragung von 176 Einrichtungen teilweise nur bei 76 Prozent. In den größeren Kliniken, die eigentlich als zentrale Anlaufstellen gelten, fehlt ebenfalls oft das notwendige Personal in der Kernarbeitszeit.

Janssens, Generalsekretär der DIVI und Direktor am St.-Antonius-Hospital Eschweiler in Nordrhein-Westfalen, sagt: "Die im Zuge der Krankenhausreform so häufig angesprochene und wichtige Patientensteuerung kann in vielen Fällen durch fehlendes und nicht ausreichend qualifiziertes Personal durch die Notaufnahme nicht gewährleistet werden." Das heißt: Selbst wenn ein Patient korrekt eingeschätzt wird, gibt es oft niemanden, der die richtige Behandlung sofort einleiten kann.

Was passiert, wenn nichts passiert?

Die Folgen sind messbar: Wartezeiten von mehr als vier Stunden sind in vielen Kliniken Alltag. Patienten mit leichten Beschwerden sitzen neben Menschen mit Herzinfarkt – weil keiner sie unterscheidet. Ärzte und Pflegekräfte sind erschöpft, viele verlassen den Beruf. Und die Gesellschaft zahlt den Preis: Über 1,2 Milliarden Euro jährlich fließen laut Kassenangaben in unnötige Notaufnahmen, die eigentlich ambulant hätten behandelt werden können.

Die AOK fordert deshalb nicht nur eine digitale Ersteinschätzung, sondern auch eine bundesweite Aufstockung der Notfallmediziner – besonders in Regionen mit geringer ärztlicher Dichte. Ohne beides bleibt die Reform ein schönes Papier, das die Realität nicht erreicht.

Was kommt als Nächstes?

Was kommt als Nächstes?

Der Entwurf der Notfallreform soll Anfang November 2023 vorgelegt werden – doch bis zur Umsetzung vergehen oft Jahre. Experten warnen: Wenn die Politik jetzt nicht handelt, wird sich die Krise weiter verschärfen. Besonders junge Menschen zwischen 18 und 29 Jahren – die am häufigsten spontan in die Notaufnahme gehen – werden in Zukunft noch stärker auf das System angewiesen sein. Und das System ist bereits am Limit.

Frequently Asked Questions

Warum unterstützen so viele Menschen eine standardisierte Ersteinschätzung, gehen aber trotzdem ohne sie in die Notaufnahme?

Viele Menschen wissen einfach nicht, wohin sie sonst sollen. Der ärztliche Bereitschaftsdienst (116 117) ist wenig bekannt, Hausärzte haben lange Wartezeiten, und bei plötzlichen Schmerzen oder Angst vor einem Herzinfarkt handeln die meisten impulsiv. Die Bereitschaft zur Reform ist groß – aber das System bietet keine verlässliche Alternative, die man im Notfall vertraut.

Wie funktioniert ein standardisiertes Ersteinschätzungsverfahren?

Ein solches Verfahren – wie es etwa in der Schweiz oder den Niederlanden etabliert ist – verwendet digitale Tools oder geschultes Personal, um Beschwerden in vier Dringlichkeitsstufen einzuteilen: von leichten Erkrankungen bis zu lebensbedrohlichen Notfällen. Patienten mit geringer Dringlichkeit werden dann an Hausärzte oder ambulante Notfallpraxen verwiesen – nicht in die volle Notaufnahme. Das entlastet das Personal und sorgt für schnellere Hilfe bei echten Notfällen.

Welche Rolle spielt die AOK bei der Notfallreform?

Der AOK-Bundesverband ist nicht nur der größte Kostenträger, sondern auch der größte Datensammler: Mit über 20 Millionen Mitgliedern kennt er die Nutzungsmuster am besten. Er hat die Forsa-Umfrage in Auftrag gegeben, um politischen Druck aufzubauen – und fordert jetzt eine schnelle Einführung des Ersteinschätzungsverfahrens, verbunden mit mehr Personal in Notaufnahmen. Ohne seine Lobbyarbeit wäre die Reform kaum auf der Tagesordnung.

Warum ist die personelle Ausstattung in Notaufnahmen so schlecht?

Viele Ärzte vermeiden den Notfallbereich, weil er stressig, schlecht bezahlt und wenig anerkannt ist. Die Krankenhausfinanzierung fördert stationäre Behandlungen, nicht Notfallversorgung. In ländlichen Regionen fehlt es zudem an Fachkräften generell. Die DIVI-Studie zeigt: Selbst in größeren Kliniken fehlt oft ein Notfallmediziner in der Kernarbeitszeit – ein gravierender Mangel, der die gesamte Patientensicherheit gefährdet.

Was können Bürger tun, bis die Reform kommt?

Bevor Sie in die Notaufnahme fahren, rufen Sie den ärztlichen Bereitschaftsdienst unter 116 117 an – er ist kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Fragen Sie Ihren Hausarzt nach einer Notfallpraxis in Ihrer Region. Und: Vermeiden Sie die Notaufnahme bei leichten Beschwerden wie Halsschmerzen oder leichten Verstauchungen. Das ist nicht nur vernünftig – es rettet auch anderen Menschen die Zeit.